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Mehr Cradle to Cradle für Großveranstaltungen mit positivem Fußabdruck

(c) Paul Gärtner

Ein Gastbeitrag von Anna-Karina Reibold, Referentin für Presse & Text bei Cradle to Cradle NGO, für die Initiative „Fairplay in Berlin“

Der Sommer ist die Zeit der Großveranstaltungen. Menschen tanzen auf Festivalwiesen, jubeln vor riesigen Bühnen oder fiebern gemeinsam bei Sportereignissen mit. Was oft in Erinnerung bleibt, sind nicht nur Müllberge, sondern auch die negativen CO₂-Bilanzen.

  • 2. Oktober 2025

Bei einem  Festivalwochenende mit 80.000 Besuchenden fallen mindestens 300 Tonnen Müll an. Das Problem beginnt dabei nicht erst beim weggeworfenen Einwegbecher, sondern bereits bei der Rohstoffentnahme und Herstellung von Zelten oder Merchandise, bei der Anreise der Teilnehmenden, bei der Energieversorgung des Events und auch beim Catering.

Viele Veranstalter versprechen inzwischen, es besser machen zu wollen, mit mehr Effizienz und weniger Abfall. Das lässt vermuten, dass Veranstaltungen bestenfalls nur etwas weniger schädlich gestaltet werden können. Doch müssen Festivals, Musik, Sport und Kultur wirklich im Widerspruch zu Klima- und Ressourcenschutz stehen?

Im Gegenteil: Sie können wichtige Orte sein, an denen Nachhaltigkeit erlebbar wird und Menschen Wandel positiv wahrnehmen. Wandel muss Spaß machen und darf nicht mit Verzicht gleichgesetzt werden. Mit genau diesem Gedanken fanden im Rahmen des Projekts Labor Tempelhof 2022 und 2024 sechs Großkonzerte von Die Ärzte und Die Toten Hosen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin statt, initiiert von Cradle to Cradle NGO, Loft Concerts, Kikis Kleiner Tourneeservice und Side by Side Eventsupport.

Das Labor Tempelhof – Festivals als Reallabor für Innovation
(c) Cradle to Cradle NGO

Ziel war es, möglichst viele klima- und ressourcenpositive Produkte, Prozesse und Innovationen nach dem Cradle to Cradle-Ansatz (C2C) unter realen Bedingungen zu erproben.

C2C ist ein kreislaufwirtschaftliches Prinzip und Wirtschaftsmodell, bei dem Abfall gar nicht erst entsteht. Müll gilt hier als Designfehler. Alles, was genutzt wird, wird wieder zu Nährstoff für Neues. Damit das gelingt, müssen Produkte und Prozesse von Anfang an für ihr jeweiliges Nutzungsszenario gestaltet werden, sodass sie entweder in die Biosphäre zurückkehren oder kontinuierlich in der Technosphäre ohne Qualitätsverlust zirkulieren können. Nichts geht verloren, alles wird wieder zu Nährstoff für etwas Neues. Statt auf Verzicht zu setzen, mit dem Ziel, lediglich weniger Schaden zu verursachen, geht es bei C2C darum, durch gesunde Materialien und positives menschliches Handeln einen Mehrwert für Mensch und Umwelt zu schaffen.

Der Ansatz orientiert sich an der Natur. Ein Kirschbaum zum Beispiel ist richtig gut für seine Umwelt. Jedes Jahr bringt er Tausende Blüten hervor, von denen nur ein kleiner Teil zu Früchten und Samen wird. Trotzdem geht nichts verloren. Der scheinbare Überfluss wird zur Nahrung für Boden und Tierwelt. Gleichzeitig reinigt der Baum die Luft, filtert Wasser und trägt aktiv zum Wohlergehen seines Ökosystems bei.

Cradle to Cradle lässt sich auf alle Lebensbereiche anwenden, auch auf Großveranstaltungen. Ein nach Cradle to Cradle optimiertes Event versucht nicht nur, ein paar Tonnen Müll einzusparen oder etwas weniger Emissionen zu verursachen, sondern setzt sich das Ziel, möglichst nur solche Produkte und Prozesse einzusetzen, die die Veranstaltung möglichst klima- und ressourcenpositiv gestalten.

Bei den sechs Großkonzerten mit über 330.000 Besucher*innen wurde das unter anderem erlebbar durch biologisch abbaubare Merchandise-T-Shirts, Humus-Toiletten, aus deren festen und flüssigen Inhalten im Rahmen eines Forschungsprojekts Phosphor zurückgewonnen und Düngemittel hergestellt wurden, ein wiederaufbereitetes Lautsprechersystem, kompostierbares Geschirr sowie den Prototyp einer Bühne aus kreislauffähigen Materialien.

In allen Bereichen – von Energie über Kommunikation bis hin zum Catering – wurden die Events nach Cradle to Cradle-Prinzipien neu gestaltet. Ziel des Projekts Labor Tempelhof war es, zu zeigen, wie sich klima- und ressourcenpositive Veranstaltungen bereits heute realisieren lassen und wo die Grenzen des derzeit Machbaren liegen. Die Erfahrungen wurden ausgewertet und in einem Guidebook dokumentiert.

(c) Cradle to Cradle NGO

Hebel für klima- und ressourcenpositive Veranstaltungen

Damit anderen Veranstaltern der Einstieg in die Planung einer möglichst klima- und ressourcenpositiven Veranstaltung leichter fällt, hat das Projektteam Labor Tempelhof jene Hebel identifiziert, die sich vergleichsweise einfach umsetzen lassen oder einen besonders großen Einfluss auf das Ergebnis haben. Dabei geht es nicht nur um die direkten Umweltauswirkungen vor Ort, sondern auch um soziale Aspekte und die Gesundheit aller Beteiligten.

Mobilität und Logistik

Mobilität, etwa die Anreise der Besucher*innen, und die Logistik rund ums Event haben einen der größten Einflüsse auf die CO₂-Bilanz von Großveranstaltungen. Bei Open-Air-Events entstehen durchschnittlich bis zu 80 Prozent der Emissionen durch die Wahl des Verkehrsmittels für An- und Abreise. 2022 gab es bereits ÖPNV-Tickets zum Konzertticket, doch die Option wurde wenig genutzt. 2024 wurde das Angebot sichtbarer gemacht und stärker kommuniziert – mit Erfolg: Der Anteil der Teilnehmenden, die Bus und Bahn nutzten, stieg von 16 auf 65 Prozent. Entscheidend ist dabei ein ganzheitliches Mobilitätskonzept, das die klimafreundliche Anreise mit Bahn, ÖPNV, Fahrrad oder zu Fuß ebenso berücksichtigt wie die Logistik vor Ort. Beim Labor Tempelhof kamen unter anderem E-Stapler und Lastenräder beim Auf- und Abbau zum Einsatz. Auch die Tourlogistik spielte eine wichtige Rolle. Wo möglich, wurde auf bestehende örtliche Infrastruktur zurückgegriffen, um Transporte zu sparen. Zudem wurde bei der Beschaffung von Gütern auf Regionalität geachtet.

(c) Cradle to Cradle NGO

Energie: 95 Prozent weniger Emissionen dank Ökostrom

Beim Thema Energie wurde echte Pionierarbeit geleistet. Eine Infrastruktur aus erneuerbaren Energien ist bei großen Open-Air-Veranstaltungen bislang die absolute Ausnahme. Dabei verursacht allein die deutsche Festivalbranche jährlich einen Dieselverbrauch von rund 400 Millionen Litern. Beim Labor Tempelhof konnten die CO₂-Emissionen im Energiebereich 2022 um 95 Prozent gesenkt werden durch den Einsatz von echtem Ökostrom aus dem Festnetz, nicht wie üblich aus Dieselgeneratoren.

Echter Ökostrom bedeutet, dass der Anbieter nicht nur Strom aus erneuerbaren Energien verkauft, sondern auch in den Ausbau neuer Anlagen zur Stromerzeugung aus regenerativen Quellen investiert. Um das zu ermöglichen, wurden eigens Leitungen aus dem Flughafengebäude auf das Konzertgelände verlegt. Das war zunächst eine aufwendige Infrastrukturmaßnahme, die im ersten Jahr hohe Investitionen erforderte, im zweiten Jahr jedoch erneut genutzt werden konnte. Inzwischen wirkt die Infrastruktur über das Labor-Projekt hinaus genutzt. Die Tempelhof Projekt GmbH, als Verwalterin des Geländes, plant, die Nutzung genau dieser Infrastruktur künftig zur Voraussetzung für die Genehmigung von Veranstaltungen zu machen.

Für sicherheitsrelevante Bereiche, die autark betrieben werden müssen, kamen alternative Kraftstoffe wie HVO (hydriertes Pflanzenöl) mit deutlich geringeren Emissionen sowie aufladbare Batteriespeicher zum Einsatz. Während beim ersten Labor Tempelhof die benötigte HVO-Menge noch selbst beschafft und vor Ort in Geräte eingefüllt wurde, waren 2024 bereits vorbefüllte Leuchten im Einsatz. Das reduzierte nicht nur den Aufwand, sondern sorgte auch dafür, dass keine Kraftstoffreste übrig blieben.

Die Umstellung auf echten Ökostrom erfordert technischen und organisatorischen Mehraufwand. Sie muss frühzeitig eingeplant und mit Investitionen in Infrastruktur sowie neuen Abläufen verbunden werden. Dennoch zeigt sich: Die Energiewende wird auch im Veranstaltungsbereich immer wichtiger, nicht zuletzt durch steigende Energiepreise, Luftverschmutzung und die Folgen von Energiekrisen.

Gastronomie: Vegetarisches und veganes Catering und Verpackungen nach Cradle to Cradle
(c) Cradle to Cradle NGO

Neben Energie und Mobilität zählt die Ernährung zu den größten Hebeln für klima- und ressourcenpositive Events. 2022 waren 60 Prozent der Angebote pflanzenbasiert, 2024 wurde komplett auf vegan und vegetarisch umgestellt. Das verbesserte die Klima- und Wasserbilanz deutlich. Wasser wurde in beiden Jahren kostenlos zur Verfügung gestellt. 2024 geschah dies unter anderem mit dem Phantor, einem innovativen, mit erneuerbarer Energie betriebenen Gerät, das bis zu 10.000 Liter Wasser pro Tag aus der Umgebungsluft filtern kann. Beim Geschirr wurde 2024 konsequent auf Mehrweg statt Einweg gesetzt, ergänzt durch 23 Nährstoffinseln zur Rückgabe von Geschirr, Speiseresten und Restmüll. C2C-Botschafter*innen unterstützten vor Ort, um dies in die Breite zu kommunizieren und richtige Materialkreisläufe sicherzustellen. Das hatte nicht nur positive Auswirkungen auf den Gastrobereich, sondern auch auf das Abfallmanagement. In Kooperation mit mehrweg.einfach.machen kamen wiederverwendbares Geschirr und Besteck zum Einsatz. Getränke wurden in Pfandbechern ausgeschenkt, Speisen auf biologisch abbaubaren Tellern serviert.

Ein Beispiel für echte Materialinnovation auf dem Tempelhofer Feld waren die Cradle to Cradle-Pommesgabeln aus der biologisch abbaubaren Kunststoffalternative traceless. Das gleichnamige Unternehmen hat sie im Rahmen des Projekts gemeinsam mit Caterer GTB entwickelt. Die Gabeln bestehen aus pflanzlichen Reststoffen und sind vollständig biologisch abbaubar. 2022 kamen sie erstmals zum Einsatz – einige Exemplare konnten sogar vor Ort innerhalb von 24 Stunden kompostiert werden. Das Material zersetzt sich rückstandsfrei und gibt dabei wertvolle Nährstoffe an den Boden zurück. Aufgrund von Produktionsbedingungen handelte es sich damals jedoch nur um Prototypen. 2024 wurden die Piekser bereits an mehreren Ständen regulär ausgegeben. Eine gemeinsam entwickelte Lösung also, die sich auf den gesamten Veranstaltungssektor hochskalieren lässt.

(c) Cradle to Cradle NGO

Wassermanagement und Sanitäranlagen

Auch auf den Toiletten war Kreislaufdenken Programm. 2022 wurden 150 Trockentoiletten von Finizio aufgestellt – neben Chemietoiletten mit biologisch abbaubaren Zusätzen, deren Inhalt zur Kläranlage Berlin-Waßmannsdorf transportiert wurde, sowie wassergespülten Containern. 2024 waren bereits 270 Trockentoiletten im Einsatz, was zur Verbesserung der Wasserbilanz beitrug. Diese Toiletten trennen Urin und Kot direkt an der Quelle und ermöglichen so eine gezielte Weiterverarbeitung. Der Urin und die festen Bestandteile aus den Finizio-Trockentoiletten wurden im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprojekts ZirkulierBAR – getragen von Finizio, den Kreiswerken Barnim und weiteren Partnern – weiterverwertet. Der Urin wurde zu Flüssigdünger verarbeitet, während die festen Inhalte im Labor Tempelhof gesammelt und in einer Anlage der Kreiswerke Barnim in Eberswalde vollständig zu Humus aufbereitet wurden. Dieser kam in einem Pilotprojekt als nährstoffreicher Dünger zum Einsatz. So entsteht ein geschlossener Kreislauf, der Phosphor und andere wertvolle Nährstoffe zurück in die Landwirtschaft bringt. Das bietet sowohl ökologische als auch ökonomische Vorteile. Phosphor ist ein begrenzter und meist importierter Rohstoff, der sich jedoch über unsere Ausscheidungen zurückgewinnen lässt.

Blick nach vorn

All dies sind nur einige Beispiele aus vielen Bereichen, in denen beim Labor Tempelhof nach Cradle to Cradle optimiert wurde. Ein C2C-Großevent ist heute noch nicht zu hundert Prozent möglich, doch Labor Tempelhof zeigt, wie nah wir dem Ziel bereits kommen können. Gleichzeitig wird deutlich, wie schnell Fortschritte gemacht werden können: Schon 2024 waren die Großkonzerte deutlich “cradleliger” als noch 2022. Zwischen den beiden Jahren haben sich viele Prozesse durch die Erfahrungen aus dem Pilotjahr deutlich vereinfacht. Vorproduktionen wurden effizienter, da etablierte Strukturen genutzt werden konnten. Auch die Zusammenarbeit mit Dienstleistenden lief eingespielter und sparte so Zeit und Energie. Alle Erkenntnisse, Hinweise und Praxisbeispiele des Projekts sind online in einem Guidebook verfügbar.

Die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Projekt Labor Tempelhof sind nicht nur für Musikfestivals relevant. Auch bei Sportveranstaltungen zeigen sich ähnliche Herausforderungen: So entstehen auch hier bis zu 80 % der Emissionen allein durch die An- und Abreise der Zuschauenden. Darüber hinaus müssen Produkte und Prozesse stets im Hinblick auf ihr Nutzungsszenario gestaltet werden. Das gilt unter anderem auch für Kunstrasen, dessen Abrieb in die Biosphäre gelangt und daher besonders sorgfältig gestaltet werden sollte. Zur Fußball-EM 2024 sorgte ein 24.000 Quadratmeter großer Kunstrasenteppich auf der Fanmeile am Brandenburger Tor für Schlagzeilen, weil er sich während der Nutzung auflöste und große Mengen Mikroplastik freisetzte. Dabei zeigen erste Ansätze, dass es auch anders geht. So produziert Shaw Industries Group Kunstrasen nach dem Cradle to Cradle-Ansatz, der beispielsweise beim US-Footballteam Baltimore Ravens zum Einsatz kommt. Cradle to Cradle findet sich zunehmend auch im Sport-Merchandise. Der VfB Stuttgart bietet beispielsweise C2C-Fanartikel an.

Wie wichtig solche Initiativen und Pilotprojekte sind, zeigen viele weitere Veranstaltungen, die sich am Beispiel Labor Tempelhof orientieren und auf C2C-Innovationen zurückgreifen. Im Juni 2023 feierte das neue Format ZukunftsMucke, inspiriert von Labor Tempelhof, seinen Auftakt als möglichst kreislauffähige Veranstaltung in Mainz. Auch auf der Green Culture Konferenz der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien 2023 entwickelten Teilnehmende Umsetzungsideen nach dem Vorbild von Labor Tempelhof für ihre eigenen Veranstaltungen. Im Juli 2024 fand im Park Sanssouci in Potsdam das Green Culture Festival statt, bei dem Labor Tempelhof Thema eines Vortrags war. Labor Tempelhof beweist, Großveranstaltungen stehen nicht im Widerspruch zu Klima- und Ressourcenschutz. Im Gegenteil, sie können zu lebendigen Experimentierfeldern und Leuchttürmen werden, die zeigen, wie positive Eventgestaltung nicht nur möglich, sondern auch inspirierend ist. Wenn wir echte Veränderungen wollen, müssen Wandel und Kreislaufwirtschaft Spaß machen. Und wie könnte dies besser erlebbar werden als durch Sport, Kultur und Kunst?

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